Fischgericht und Stahlseiltanz mit Roswitha
21.07.2018
Der Harz hat viele Berge, viele Täler, viel Wald und – was mancher kaum ahnt – viel Wasser. Es gibt so viel Wasser in
Bächen und Flüssen, dass man es sammeln kann. Man baute eine breite und hohe Mauer in ein Flusstal und schon
entstand dahinter ein Stausee. Gleich drei gibt es nahe Wendefurth, einem Ort mit nicht einmal zwanzig Häusern. Gleich
hinter dem letzten Garten erhebt sich die Mauer der Talsperre, hinter der sich die Bode zu einem See staut, der sich
zwischen die Berge schlängelt. Am anderen Ende des Sees erhebt sich die noch viele höhere Staumauer der
Rappbodetalsperre. Dahinter ein großer Stausee, der als Trinkwasserspeicher dient. Zwischen beiden, etwas versteckt
hinter einem Zaun auf der Kuppe eines Hügels, liegt das Pumpspeicherbecken von Wendefurth. Von hier aus fällt das
Wasser durch dicke Rohre knapp 130 Meter tief auf Turbinen und erzeugt auf diese Weise Strom. Das Ziel der Begierde
ist am heutigen Tag aber der untere Stausee, denn dort gibt es die Seeterrasse „Zum Hecht“. Wir haben Besuch aus
Elsterwerda (!) und uns ist nach leckerem Fisch.
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Der „Hecht“ befindet sich auf einem Bootsanlegesteg, der in den See hinaus ragt. Man kann sich hier ein Ruderboot
ausleihen oder sich in ein Bootgefährt zum Treten setzen. Selbst ein Wickinger liegt am Steg, aber die eigentliche
Attraktion ist ein großes Floß, eine schwimmende Gaststätte. Darauf sitzen, speisen und zwei Stunden lang bis in den
hintersten Winkel des Stausees, an der Rappbodetalsperre vorbei, zu schippern, das ist sicher ein tolles Erlebnis. Doch
heute genügt ein windgeschützter Platz an einem der Tische im Außenbereich. Das ist zwar nicht die Ostsee, auch kein
Kanal, aber der liebevoll ausgestattet Anleger hat genug Flair, sich wohlzufühlen, während man auf sein ausgewähltes
Gericht wartet. Meine Augen suchen das Ufer gegenüber ab und bleiben am Wickinger hängen, dessen lustige
Mannschaft gerade versucht, sich auf eine Fahrtrichtung zu einigen: Eine Seefahrt kann so lustig sein, denke ich noch,
und dann kommt das schwimmendes Fischgaststättenfloß, inklusive viel Gelächter, in mein Blickfeld. Schon von weitem
hallt das Lachen der Insassen über die Wasserfläche und das ändert sich bis zum Anlegemanöver am Steg auch nicht
mehr.
Inzwischen steht vor mir ein Teller mit einem Stück Aal sowie Kartoffelsalat, meine beiden weiblichen Gegenüber freuen
sich über eine Forelle. Die Fischgerichte sehen sehr lecker aus, doch schon Minuten später sind nur noch Gräten und
der Knorpel übrig. Im Nachhinein stelle ich für mich fest, dass Forelle wohl die bessere Wahl gewesen wäre. Aber es
musste unbedingt einmal wieder ein Stück von diesem schlangenförmigen Körper sein, den ich schon vor gefühlten
Jahrhunderten zum letzten Mal gegessen hatte. Jetzt müsste man in eines der Tretboote steigen und den See erkunden,
was die beiden Damen auch sogleich in die Tat umsetzen. Für mich und meine Hüfte ist dieser enge Plastiksitz nicht
geeignet und deshalb beaufsichtige ich zwei Rucksäcke. Ich beobachte das Geschehen, gemeinsam mit einigen Herren
der „Frühstücksrunde“ aus Eisenach, von einer kleinen Bank aus. Während die Weibchen eine Runde treten, habe ich
das seltene Vergnügen, eine Hochzeitsgesellschaft zu erleben, die das Floß für ihre Trauung mit anschließender
Feierlichkeit gemietet hat. Ich darf zusehen, wie der Brautvater seine Tochter, wirklich sehr geschmackvoll ganz in Weiß
gekleidet, dem Bräutigam übergibt, wie beide die Bretter des schwimmenden Standesamtes betreten, das dann
langsam ablegt. Sogar einige Momente der Trauzeremonie kann ich noch, gemeinsam mit der „Frühstücksrunde“,
erhaschen. Als das Floß in der Ferne entschwindet, bin ich um eine außergewöhnlich interessante Beobachtung
bereichert, habe eine exklusive, Bier trinkende Herrenrunde kennengelernt und darf zudem eine Hochzeitsgesellschaft
auf ihrem außergewöhnlichen Gefährt beobachten. Nur gut, dass ich nicht mit hinaus auf das Wasser gegangen bin!
Eine Stunde später sind die Stausee-Piratinnen zurück. Am Parkplatz muss ich meinen superschlanken Sportkörper
verbiegen, um ins Auto zu gelangen. Der neben mir, ein Kennzeichen aus Bundesaltland, war zu dämlich, richtig
einzuparken. Sein Auto schien neu, meins ist älter, hat eine stolze Blechkerbe und daneben wäre noch so viel Platz
gewesen. Selber schuld, Wessi-Kumpel! Auf dem Parkplatz zur Hängebrücke ist dann alles wieder besser sortiert,
obwohl auch sehr eng. Der einstige Außendienstler findet natürlich auch hier einen Platz. Wir kaufen Tickets und gehen
mutig hinauf zum „Start“ in die Stahlseilhängewelt über dem Tal, neben dem Staudamm. Ich habe nicht einmal ein
komisches Gefühl.
Das kommt aber nach den ersten gelaufenen Metern auf dem stählernen Netzboden. Die Hängebrücke führt ein
Eigenleben im Wind und durch die ständigen Gewichtsverlagerungen der über sie gehenden Menschgruppen schwankt
die Konstruktion unter meinen Füßen. Man kann dennoch freihändig stehen oder laufen, etwas angenehmer ist es aber,
sich am Geländer festzuhalten oder den Blick in die Tiefe zu riskieren. Schon nach wenigen gelaufenen Metern
„versinkt“ der Boden mit den Baumkronen und das Gefühl, nirgendwo mehr verankert zu sein, stellt sich ein. Die Körper
entscheiden sich spätestens jetzt entweder für Adrenalin oder Angst. Letztere sieht nicht gut aus, wenn sie einem in
Gestalt eines ängstlich weinenden Kindes entgegen kommt. Die Kleine tat mir wirklich leid, für ihren Vater fehlt mir
jegliches Verständnis.
Ich genieße es, hier oben am Brückengeländer zu stehen und den etwas anderen Blick auf die Berge ringsum einfangen
zu können. Von der anderen Seite blickt man auf die Staumauer mit den Menschen darauf sowie den Autos, die darüber
fahren. Es fühlt sich unwirklich und auch ein wenig falsch an, das Brückenmonstrum in die Landschaft gehangen zu
haben. Volkes Belustigung hätte sicher auch andere Alternativen haben können, denke ich, aber all die Menschen auf,
neben und am Einlass zur Attraktion sehen das wahrscheinlich völlig anders. Jeder Harztourist möchte ein Mal darüber
laufen und von hier sein Brücken-Selfie an Freunde verschickt haben. Tribut an die digitale „Kommunikations“-
Gesellschaft der Smartphone-Anbeter. Wandernd durch die Harzwälder die Natur zu genießen, ist nicht deren Ding oder
Begehr. Wir gehen mitten auf der Konstruktion zur Stempelstelle der Wandernadel und drücken uns den Sonderstempel
in unser Wanderheft, das langsam auf eine attraktive Rückschau verweisen kann.
In regelmäßigen Abständen gellen die Schreie der Adrenalin-Junkies am Seil über das Tal, wenn deren wilde Schussfahrt
nach unten beginnt. Der „Flug“ zur Gegenstation überlebt nicht einmal eine Minute, schüttet aber die Glückhormone
eines halben Jahres ins Blut. Ähnlich fühlt sich vielleicht auch der Fall am Bungee-Seil, von der Mitte der Brücke an,
wenn der Körper am langen Gummiband hängend, dem Abgrund „zum Fraß“ hingeworfen, aber vor dem Aufprall
abgefangen wird. Schlussendlich baumelt ein Körper, völlig frei schwingend unter uns. Ich sehe mir die Zeremonie unter
meinen Füßen an, höre die Kommentare und weiß sicher, dass ich mir meinen Adrenalinschub lieber vor einer
Konzertbühne, oder anderen Ortes, antun möchte. Dieser unnatürliche Kick ist nichts für mich und meinen 70. möchte
ich auch noch erleben.
Wir überqueren die 458 Meter frei hängende Brückenkonstruktion. Dabei werden wir oft von anderen kleinen Gruppen
überholt. Ich genieße die Aussicht auf beiden Seiten, riskiere Blicke nach unten und manchmal auch senkrecht durch
das Bodenraster. Das alles dauert, nimmt Zeit in Anspruch, denn ich mache schließlich keinen Wettlauf. Irgendwann
stehen wir auf der anderen Seite und bestaunen den knappen halben Kilometer, der hinter uns über dem Tal frei hängt
und schwingt. Ich bin freiwillig über diese Hängebrücke gelaufen und verspüre keine Lust, den Rückweg über die
Staumauer zu wählen. Ich hole mir das Erlebnis ein zweites Mal, gehe diesmal dem Menschenstrom entgegen und
entdecke dabei neue Details aus anderem Blickwinkel. Im Grunde bleibt aber die Erkenntnis, dass der gleiche
faszinierende Anblick auch von der Staumauer möglich wäre, hinge jetzt nicht eine Brücke aus Stahl den dortigen
Besuchern vor der Nase.
Warum nur brauchen Menschen für ein und dasselbe Erlebnis einen zusätzlichen Kick oder einen, der sie bespaßt?
Warum muss stets die Natur weichen, nur weil wir zu bequem sind, uns selbst zu mühen oder zu entdecken? Wir
werden weitere Bäume fällen, nur um unsere Autos aus Bequemlichkeit nahe der Hängebrücke abstellen zu können.
Sorry, aber uns gehört das Land nicht, kein Grund und Boden. Das haben wir uns vor Jahrhunderten nur mal so
ausgedacht. Die Natur, zu der WIR gehören, hat die Macht, zu jeder belieben Zeit alles wieder zu ändern. In diesem
Sommer hat sie mit der Sonne sogar einen Verbündeten. Wir sollten demütiger mit dem Geschenk des Lebens, gleich in
welcher Form wir es erleben, umgehen. Da ist so eine Hängebrücke eher unnütz und wenn man so will, sogar Prahlerei.
Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.